Raumakte: Strahlnen an der Furka, oder auch: Furka zum zweiten

Blogpost Raumakte, 2015.

Auf dem Weg von unserem Biwak zwischen den Militärbaracken am Furkapass in Richtung Sidelenhütte stolpere ich über einen einzelnen aus dem Schnee ragenden Granitblock, in den eine Inschrift gemeisselt wurde: VOYAGEZ LEGEREMENT. Die verrücktesten Eingriffe von Menschen in die Natur haben wir schon gesehen: Künstlich geschlagene Stufen und Griffe in Kletterrouten, faustdicke Fixseile am Hörnligrat, reihenweise weiss-blau-weisse Wegmarkierungen, „Mischabelhütte ———->“ in knallroter Farbe (Datum und Autor unbekannt, Acryl auf Granit). Eine in Stein gemeisselte Plattitüde hingegen geht dann doch zu weit. Voyagez légèrement? Na vielen Dank.

Nach der Eroberung des Paradieses mit Zwischenhalt an der Postautostation Hanicity gelangen wir zur Sidelenhütte. Unserer etwas ungewöhnlichen Bitte (könnten wir bitte 2 Bier haben a) auf Kredit (wir zahlen morgen) und b) in Euro zahlen?) wird mit einem Stirnrunzeln, aber freundlich nachgekommen. Auch hier sind wir die einzigen Gäste. Das Wirtepaar versorgt uns sogar noch mit Suppe. Sonst sind biwakierende (und somit wenig gewinnbringende) Kletterer ja wenig willkommen. In einer Kiste werden Bergkristalle zum Verkauf angeboten. Wie üblich dreht sich das Gespräch um das Wetter, den vielen Schnee und die anderen Tourengänger. Der Hüttenwart war heute noch kurz Schifahren und meint auch, die beiden Jungs (die mit dem VW-Bus und der Cyborgschiene) seien Strahl*&% gegangen. Ich frag noch nach, wo das denn sei, ob damit der Strahlengrat am Klein Bielenhorn gemeint sei, aber da muss er uns aufklären: mit Strahlen oder Strahlnen bezeichnet man das Suchen nach Mineralien. Scheint den meisten Schweizern geläufig zu sein. Bis zu uns nach Basel war das bis dahin nicht durchgedrungen.

Am Abend zurück im Biwak, nach dem zNacht so um 9, kommen die beiden Strahler wieder vorbei. Während der Sommersaison sind sie fünf Tage in der Woche in den Bergen unterwegs, meist von 9 bis 9. Im Winter helfen sie auf dem Bau, bauen um, gestalten und helfen aus. Christoph ist sicher einsfünfundachtzig gross, kräftig gebaut und wiegt im Frühling über achtzig Kilo. Am Ende der Saison werdens hingegen nur noch sechzig sein. Er war zehn Jahre lang Freestyleschifahrer, musste nach unzähligen Rücken- und Knieverletzungen aber aufgeben. Nun ist er Vollzeitstrahler, was natürlich viel gesünder ist für Knie und Rücken, wie man Thomas ansieht. Abends humpelt Thomas leicht, seine Minisken verdanken ihm die Arbeit nicht. Er stammt aus Vorarlberg, wohnt aber schon ewigs im Rheintal – daher sein undefinierbares St. Galler-Vorarlberger-Bündnerdeutsch. Auch für ihn ist Strahlen eine Leidenschaft – und knallharte Arbeit. Zwei-, dreihundert Meter seilen sie sich ab in Wände, in die wir als „harte“ Bergsteiger niemals einen Fuss setzen würden. Schutthalden sind das, kein Stein liegt da auf dem anderen. Sonst kommen die Kristalleinschlüsse ja nicht zum Vorschein. Oder sie steigen von unten in die Wände ein, oft alleine, meist kaum gesichert. Wenn sie einen Fund machen, markieren sie die Stelle als die ihre. Es gehört sich nicht, dass man den Fund eines anderen Strahlners ausmeisselt. Im Kodex ist auch zu lesen, dass bedeutende Funde einem Wissenschaftler gemeldet werden sollen und dass man hauptsächlich zu privaten Sammlungszwecken strahlen gehen soll. Die beiden drücken uns ihre Visitenkarten in die Hand, „alpine Mineralien direkt vom Strahler“. Christoph und Thomas sind Vollzeitstrahler und können davon leben. Sammler und Esoteriker sind ihre Hauptkunden. Andere legen jedoch auch Geld an in Mineralien. Für eine grosse und schön geformte „Stufe“ zahle man schnell mal 10’000 Stutz. Sie zeigen uns ihren heutigen Fund: einige gut 40cm hohe und 15cm dicke Rauchquarzsäulen. Rauchquarzstufen, richtigerweise. So hat doch jede_r Spezialist_in ein eigenes Vokabular. Jäääjä, weder wir Bergsteiger verstehen die Strahler, noch die Ökonomen die Historiker, die Üsserschwiizer die Walliser oder die Deutschweizer die Romans. Und da wundert man sich, dass die Deutschen die Griechen nicht begreifen.

Natürlich lässt so eine Geschichte nicht los, und am Ferienwochenende (also Ferien von den Kletterferien) in Zürich wird jede und jeder und alles gefragt, ob er_sie weiss, was Strahlen ist. Der erhoffte Überraschungseffekt bleibt zumeist leider aus, vor allem Bergkantönler wissen „natürlich“, was Strahlen ist und was Strahler machen. Aber sogar im fernen Baselbiet kennt man das.

Da war nämlich eine Medizinstudentin, die hatte mal einen Patienten, einen ziemlich jungen, so in den frühen 20ern, der wurde offenbar mit 18 zum ersten Mal eingeliefert. Unfall beim Strahlen, Prognose Paraplegie, also Querschnittslähmung. Nach sechs Monaten verliess er das Spital – auf beiden Beinen und mit nur einem Ziel: seine letzte Fundstelle weiter abzubauen. Zwei Jahre später wurde er wieder angekarrt (oder geflogen). Unfall beim Strahlen, Prognose Tetraplegie. Nach neun Monaten verliess er das Spital – auf beiden Beinen und mit nur einem Ziel: die nächste Fundstelle abzubauen. Die Mutter war schier am verzweifeln und kaum zu beruhigen. Verständlicherweise. Was treibt einen solchen Jungen in die Berge, entgegen aller Vernunft? Ich dachte, nur wir „harten“ Bergsteiger hätten einen Dachschaden. Ist es die Sammelwut, die Goldgräberstimmung, die Sucht nach mehr und die Hoffnung auf den grossen Fund? Die Schönheit und Einzigartigkeit der Stufen? (Eine Bildsuche nach Mineralien lohnt sich.)

Foto Tauchclub Jona Rapperswil, Roger 2009

Der Ruf des Abenteuers, loszugehen ins Unbekannte, die Risiken selber abschätzen zu können statt sie von andern bestimmen zu lassen und selber Neues zu entdecken? Oder doch eher die Flucht vor Menschen, vor einem Chef, um in Ruhe den ganzen Tag alleine verbringen zu können? Einen soziophoben Eindruck machen die beiden Strahler ja nicht gerade…

Aber zurück zur Furka. Dort oben auf 2436 m.ü.M. wollte unser Auti nicht mehr starten. War wohl etwas zu kalt, die Batterie schon alt, das Licht zu lange angelassen, etc. etc. Wir rollen den Wagen die Böschung hinunter, aber leider startet er auch so nicht. Sind die Fahrenden schon jetzt gestrandet auf diesem einsamen Pass? Am nächsten Morgen versuchen wir Hilfe zu finden, aber so viele Optionen haben wir ja nicht. Die Biologen haben ein Auto, aber leider kein Startkabel. Die beiden asiatischen Damen im HOTEL RESTAURANT FURKABLICK konnten unser Problem mangels Deutsch- und Englischkenntnissen gar nicht erst erfassen – der Chef komme nur einmal pro Woche vorbei, um nach dem Rechten zu schauen. Auf der Strasse ist auch noch niemand unterwegs. Also erst mal Espresso machen. Zum Glück tauchen pünktlich um 9 der Christoph und der Thomas, die beiden Strahler, wieder auf – mit Startkabel. Zuverlässig und hilfsbereit. Hier oben ist man aufeinander angewiesen.





Berge im Kopf, Porträts eines Strahlers und drei anderen Berggängern.
Strahler-Kodex.
Mineralien.

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